Ich bin hier und ich bin sicher.
- Corinna Radakovits
- 19. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Wer bin ich? Und warum habe ich fast 6 Jahre gebraucht, um diesen Blog zu starten?
Wenn die Antwort darauf bloß einfach wäre. Ich könnte meine Diagnosen der letzten Jahre aufzählen und du könntest dir aufgrund deines eigenen Erfahrungsschatzes davon ein Bild machen, was das heißen kann. Je nachdem, was du damit verbindest, würdest du ein vollständiges Puzzle von dem bekommen, was ich erlebt habe. Oder aber diese Wörter würden sich gemeinsam mit deinen Erfahrungen zu einer bestimmten Vorstellung verselbständigen. Und das Puzzle über mich bliebe unvollständig.

Deshalb lass es mich anders versuchen. Und zwar mit dieser Frage: Was bedeutet es für dich, ein lebenswertes Leben zu führen? Ich dachte immer, ich wüsste es. Aber an einem bestimmten Tag im Frühling 2019 wurde mir klar, dass ich doch keine Ahnung hatte. Der Tag steht für mich für eine Art Zäsur. Und er ist der Grund dafür, warum ich heute so unendlich froh bin, diesen Blog zu starten. Denn im Frühling 2019 wurde mir mit einem Schlag der Boden unter den Füßen weggezogen und es hat lange gedauert zu verarbeiten was in diesem Moment und danach passiert ist. Und heute schaffe ich es, diesen Text zu schreiben, weil mein Körper es zulässt und ich besonders gut auf mich achte. Aber auch, weil mir heute nicht mehr die Worte fehlen. Sie fließen nur so aus mir heraus und wollen auf Papier gebracht werden. Diese Zeilen zu schreiben ohne Schmerz und ohne Tränen, das Dokument nicht verzweifelt schließen zu müssen, um es Jahre später wiederzufinden, das tut gut.
"Ich schreibe Sie jetzt 6 Wochen krank. Aber Sie werden da nicht mehr zurückkehren. Sie müssen zu Kräften kommen und sich wirklich regenerieren."
"Ich schreibe Sie jetzt 6 Wochen krank. Aber Sie werden da nicht mehr zurückkehren. Sie müssen zu Kräften kommen und sich wirklich regenerieren." Ich höre diesen Satz von meinem damaligen Hausarzt in Neukölln und lache impulsiv los. Ich erkläre, beschreibe, verzweifelt, irritiert, warum das auf gar keinen Fall geht. Heute sehe ich: Man hatte mich damals in meinem Anstellungsverhältnis erfolgreich in eine vermeintlich so unersetzliche Position gebracht, mir mehrere Mitarbeiter*innen und Lehrlinge unterstellt. Wie sollte ich da als Studioleitung so lange fernbleiben? Ich fühle mich von meinem Arzt nicht ernst genommen, bin sauer, will eine Alternativlösung. Aber ich muss schnell verstehen, wie ernst er es meint und dass es an diesem Punkt keinen Verhandlungsspielraum gibt.

Für mich bricht damals 2019 eine Welt zusammen. Meinen Mitarbeiter*innen steht eine richtig schwierige Zeit bevor. So vieles müssen sie plötzlich selbst lösen. Ich bin wütend auf dieses ungerechte System und die Firmenstrukturen, die dafür gesorgt haben, dass wir alle kollektiv an unser Limit gekommen oder auch darüber hinweg gegangen sind, wie ich.
Aus heutiger Sicht verspüre ich pure Dankbarkeit für diesen drastischen Weg meines Arztes. Er hat damit dafür gesorgt, dass ich mich nicht weiter zerstöre, um in diesem irren System zu überleben und das Rad am Laufen zu halten. Mir fehlte zu diesem Zeitpunkt schlichtweg die Fähigkeit, das selbst einschätzen zu können. Ich hatte keine Ahnung, wie schlecht es bereits physisch und psychisch um mich stand. Diese Machtlosigkeit und dieser Kontrollverlust konnte ich viele Jahre weder erkennen noch benennen und schockieren mich noch heute, sechseinhalb Jahre später.
Auf meine Ressourcen achten. Achtsamer sein.
Stressmanagement. Nicht ausbrennen. Easy!
Also zuhause bleiben. Nichts tun. Runterkommen. Und das nach mehreren Jahren in Vollzeitanstellung bei 42 Stunden pro Woche mit Schichten bis teilweise 21.00 Uhr. Easy! Endlich Zeit für all die schönen Dinge, die in den letzten Jahren auf der Strecke geblieben sind. Entspannen, kreativ sein, das tun, wonach mir ist, halleluja! Diese Vision hatte ich für eine sehr kurze Zeit und war davon überzeugt, dass mein Genesungsprozess so ablaufen würde. Aber schon bald würde ich mir in den Arsch beißen und mich darüber ärgern, wie wenig möglich ist. Mein Nervensystem ist damals nicht bereit dafür. Meine Kreativität ist ausgetrocknet, wie ein Schwamm in der brütenden Hitze am Strand. Nichts geht. Und an einem Punkt zu sein, an dem ich, an dem mein kreativer Ausdruck wieder halbwegs ins Rollen kommt, wird noch Jahre dauern.
Auf meine Ressourcen achten. Achtsamer sein. Stressmanagement. Nicht ausbrennen. Hast du das gelernt? Ich nicht. Ich schäme mich damals, mich plötzlich mit diesen Dingen beschäftigen zu müssen. Yoga ja, aber bitte nur um mich richtig auszupowern. Meditieren? Wie soll ich bloß so lange ruhig sitzen? Und wie bekomm ich das Gedankenkarussell währenddessen zum Stillstand? Achtsamkeit? Ich bin doch achtsam, ich bin ja schließlich Fotografin!
Oh Gott, musste ich noch viel lernen. Und verlernen. Es war ein harter Weg. Ein Weg den ich zum Glück nicht allein gehen musste. So viele großartige Menschen waren in den Jahren seither an meiner Seite und haben mich unterstützt. Mit ihrer Expertise, ihrer bloßen Anwesenheit, ihrem offenen Ohr und den klaren Worten, dem liebevollen Feedback und der technischen Unterstützung haben sie mir dabei geholfen, da hinzukommen, wo ich heute bin. Bis heute. You know who you are! <3 Ich danke euch.

Doch als erstes heißt es im Frühling 2019: Genesen. Ich bin mir sicher: Mehr als diese 6 Wochen kann das ja wohl nicht dauern! Aber da habe ich die Rechnung offenbar ohne meinen Körper gemacht. Aus 6 Wochen werden mehrere Monate. Kündigung, Krankengeld, die Entscheidung mich selbständig zu machen. Das erscheint mir logisch. Wenn ich es als Angestellte in diesem irren System nicht aushalte, macht es doch mehr Sinn, es auf eigene Faust zu versuchen. Mit meinen Regeln, in meinem Tempo, auf meine Art.
Little did I know, dass man sich auch in der Selbständigkeit ausbrennen kann und wie viel es mit mir machen würde, diese ganze Verantwortung plötzlich allein zu tragen und täglich unendlich viele Entscheidungen zu treffen.

Zum Glück gibt es Margit und Gönül. Zum Glück habe ich damals den Mut, mich für einen Gründerinnenkurs anzumelden, der sich dezidiert an Frauen richtet und bei dem diese beiden Frauen etwas aus mir herauskitzeln, das ich nicht habe kommen sehen. Von diesen Wochen zehre ich heute noch! Ich lerne in dieser Zeit nicht nur Marketingstrategien und Kalkulationen, wie ich einen Businessplan schreiben und eine gute Buchhaltung führen kann. Viel wichtiger für mich ist der Bereich der Persönlichkeitsentwicklung und des Selbstmanagements, wie Margit es nennt. Als sie zum ersten Mal den Raum als Vortragende betritt, weiß ich, ich bin hier richtig. Ich bin hier sicher.
Was brauche ich?
Ich lerne von Margit, wie sehr Klarheit mir hilft. Ich bin beeindruckt von ihrer offenen Art, ihrer Lebensfreude und dass sie es schafft, mich mit ihren Themen so zu berühren und mitzunehmen, obwohl ich damit am Anfang ein bisschen fremdle. Mich interessiert plötzlich alles, weil ich spüre, wie viel es ihr bedeutet und weil sie ihre Inhalte mit einer Selbstverständlichkeit vermittelt. Nach Margits erster Visionsreise mit anschließendem Visionboard weiß ich: Das ist mein Tool! Das ist eine perfekte Art, meinen Kopf aufzuräumen und mir meiner Bedürfnisse und Gefühle bewusst zu werden. Seither sind viele Visionboards privater und beruflicher Natur entstanden und es erfüllt mich mit Stolz, dieses Tool heute auch in meinen eigenen Kursen einzusetzen. Dabei denke ich immer an dich, Margit. Danke dafür!
“Oh Gott, ich habe einen Fehler gemacht!”
Was alle Vortragenden des Gründerinnenkurses gemeinsam haben: Sie sprühen für das, was sie uns vermitteln! Und sie sind klar in ihrer Kommunikation, und das in jeder Hinsicht. Als ich einmal die Nerven beim Kalkulieren wegschmeiße und dem Heulkrampf nah bin, spricht Gönül mich direkt auf meine Stressreaktion und meine impulsive Verweigerung an. Und auf mein Schamgefühl, nicht richtig rechnen zu können und den Überblick verloren zu haben, legen sich sofort Scham und Angst obendrauf, in der Gruppe outgecalled zu werden. Aber dann bittet sie uns alle aufzustehen, unseren Körper abzuschütteln und laut zu rufen “Oh Gott, ich habe einen Fehler gemacht!” und wir versuchen es erst zaghaft, dann immer lauter. Und aus Angst und Scham wird plötzlich ein lautes Gelächter über diese absurde Situation. Angst und Scham sind (zumindest vorübergehend) besiegt und ich reguliere mich dank der kollektiven Anti-Scham-Aktion. An diese Szene denke ich seither immer, wenn mir etwas misslingt, ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht werde oder einfach richtigen Bockmist gebaut habe. Danke Gönül!

Niemals habe ich so viel gelernt wie in diesen zwei Monaten. Über mich, über das, was ich will und was ich brauche. Das war mitunter hart, hat mich aber erkennen lassen: Gut durch die Selbständigkeit zu kommen, hat viel mehr mit der Klarheit über meine Bedürfnisse zu tun als mit allen anderen Tipps und Tricks, die mir in den letzten Jahren in dieser Bubble um die Ohren geflogen sind. Kalkulationen und Strategien werden dich nicht davor bewahren, dich kaputtzuarbeiten, wenn das bisher immer dein Modus war. Klar zu sein und Klarheit einzufordern, gut auf mich aufzupassen und jeden Tag ein kleines Stück mehr Vertrauen in das aufzubauen, was ich mache, DAS hilft mir.
Diese Punkte haben etwas mit mir gemacht, mich nachhaltig beeinflusst. Manchmal dauert es aber, bis der eigene Blick so klar wird, man ressourcentechnisch so aufgestellt ist, dass sich die Dinge auch umsetzen lassen, man sich selbst nicht mehr im Weg steht und man den nötigen Mut aufbringt und sich wirklich raus traut.

Ich bin hier und ich bin sicher.
Und nun ist es so weit. Ich trau mich raus. Ich trau mich wieder zu schreiben. Mir fehlen nicht mehr die Worte. Ich habe keine Angst mehr vor den Konsequenzen, wenn ich meine Gedanken öffentlich teile. Ich trau mich, es einfach fließen zu lassen. Und ich achte dabei möglichst gut auf mich. Das ist meine größte Lektion: Achtsam sein heißt nicht aufmerksam sein. Es heißt, mit mir verbunden zu sein. Zu erkennen, was ich brauche. So früh wie möglich. Ich bin hier und ich bin sicher.